Roland Hofmann

Charitas profectus animi

Der Liebesbegriff in den Sieben Büchern der Dialoge Hugos von Rouen

Vortrag über die gleichnamige Diplomarbeit im Fachbereich systematische Theologie, eingereicht bei Prof. Dr. Rainer Berndt SJ zum 17. November 2006, anläßlich der Verleihung des Förderpreises des Freundeskreises der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen

Sankt Georgen, 16. Januar 2008


Grabmal des Erzbischofs Hugo von Rouen im Chorumgang der Kathedrale von Rouen

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich möchte an dieser Stelle zunächst meine Freude darüber ausdrücken, daß mir in diesem Jahr der Förderpreis des Freundeskreises Sankt Georgen zuerkannt wird und dafür dem Freundeskreis meinen herzlichen Dank aussprechen. Mein Dank gilt auch allen, die mich fachlich und moralisch bei der Erstellung dieser Arbeit unterstützt haben, allen voran P. Berndt.

Daß ich meine Diplomarbeit über ein Thema aus der Theologie des Mittelalters bei P. Berndt schreiben möchte, stand für mich schon lange fest. Als mir P.Berndt neben anderem die Sieben Bücher der Dialoge Hugos von Rouen als mögliches Thema vorgeschlagen hat, war ich bereits bei der ersten Lektüre begeistert und erkannte die große Bedeutung der Charitas in diesem Werk. Nun galt es, den Text, der nur in der lateinischen Fassung bei Migne, Patrologiae Latinae, Band 192, Paris 1855 vorliegt, entsprechend aufzubereiten und zu übersetzen.

Da den meisten von Ihnen sicherlich ebenso wie mir vor dieser Arbeit Hugo von Rouen weitgehend unbekannt ist, möchte ich Ihnen diesen durchaus bedeutenden Mann des 12. Jahrhunderts zunächst kurz vorstellen.

A. Hugo von Rouen

I. Leben und Werk

Hugo wurde im Jahr 1085 in der Gegend von Amiens geboren, weshalb er auch oft Hugo von Amiens genannt wird.

In der Zeit zwischen 1105 und 1110 hat Hugo an der Kathedralschule von Laon, eine der großen Schulen des Mittelalters, studiert und dort wohl seine entscheidende theologische Prägung erhalten. Leiter der Schule war Anselm von Laon, ein Schüler Anselms von Canterbury.

Um das Jahr 1110 ist Hugo in die berühmte Abtei Cluny eingetreten.

1123 wurde er von König Heinrich I. von England, mit dem Hugo Zeit seines Lebens eng verbunden blieb, zum ersten Abt von Reading eingesetzt. Die Abtei erlebte unter Hugo eine spirituelle und wirtschaftliche Blüte. Einige theologische Werke Hugos sind in dieser Zeit entstanden, unter anderem die Erstfassung der Sieben Bücher der Dialoge.

1128 berief Papst Honorius II. Hugo in seinen Dienst nach Rom und verlieh ihm den sonst für niemanden belegten Ehrentitel eines specialis clericus.

1130 wurde Hugo Erzbischof von Rouen.

Im selben Jahr kam es zu einem Papstschisma, wobei Hugo sich entschieden auf die Seite von Papst Innozenz II. stellte, den er im Jahr 1131 in Rouen empfangen hat. Dieser beauftragte ihn im Sommer 1134, offiziell als Legat des Papstes in Südfrankreich tätig zu sein, im Jahr 1145 wurde Hugo nochmals mit einer überdiözesanen Aufgabe betraut.

In seiner Bischofsstadt hat Hugo die Planung der neuen, gotischen Kathedrale in die Wege geleitet, die dann allerdings zum größten Teil erst nach seinem Tod gebaut wurde. Am 11. November 1164 ist Hugo in Rouen verstorben. Ein Grabmal im Chorumgang der gotischen Kathedrale erinnert noch heute an den großen Erzbischof.

II. Die Sieben Bücher der Dialoge

Trotz seiner umfangreichen pastoralen und kirchenpolitischen Tätigkeit fand Hugo die Zeit, mehrere theologische Werke zu verfassen. Sie behandeln eine Vielzahl theologischer und spiritueller Themen und sind inhaltlich und stilistisch von hoher Qualität.

Die Sieben Bücher der Dialoge sind eines der umfangreichsten und inhaltlich bedeutendsten Werke Hugos. Sie sind in der Zeit zwischen 1125 und 1133 entstanden.

Sie sind geschrieben für Matthäus, Kardinalbischof von Albano, einen Verwandten Hugos, der um die Beantwortung einiger theologischer Fragen gebeten hat.

Das Werk ist in Dialogform aufgebaut. Obwohl Hugo die beiden Dialogpartner nicht näher definiert, könnte es sich durchaus um einen Dialog zwischen Hugo und Matthäus handeln.

B. Charitas profectus animi, qui Deum et in Deo omnia diligit. - Liebe ist der Fortschritt der Seele, die Gott und in Gott alles liebt.

In seinem Werk beschäftigt sich Hugo mit allen wichtigen theologischen Themen, wie Trinitätslehre, Christologie, Pneumatologie, Schöpfungslehre, Erlösungslehre, Eschatologie, Ekklesiologie und Sakramententheologie. 

I. Liebe - Charitas

Die Liebe, die Charitas, ist für Hugo der zentrale Begriff seiner Theologie und durchzieht die Sieben Bücher der Dialoge. Manchmal hebt Hugo geradezu zu einem Lobpreis der Liebe an. Sein Dialogpartner ermuntert ihn dazu:

„Fahre fort, denn ich höre dich sehr gerne über die Liebe sprechen! - Liebster, unser Mittler ist uns wahrhaft als Gott und Mensch erschienen und hat uns die Liebe, mit der wir Gott und die Menschen lieben sollen, gnädig eingegossen. ... Die Liebe ist die Tugend, durch die die vernünftige Schöpfung, wenn sie an ihr festhält, ihrem Schöpfer ähnlich wird. Wenn sie ihrer aber entbehrt, bleibt sie ihm unähnlich. [...] Es steht also fest, daß wir diese eine Liebe in allem nachahmen müssen! [...] Nichts übertrifft die Liebe, in der allein Gott und Mensch verbunden sind.“ (II, 5, 1157f.)

Mit der Betonung der Liebe steht Hugo ganz im Trend seiner Zeit. Mit Anselm von Canterbury begann ein neues, emotionales Sprechen über die Liebe. Ein Wandel, der im 11. und 12. Jahrhundert in der weltlichen Literatur, dem höfischen Roman und der Trobadourdichtung festzustellen ist, fand seinen Niederschlag auch in der Theologie dieser Zeit. Theologische Werke, in denen die Liebe einen weiten Raum einnimmt, erwiesen sich als modern. So gibt es zahlreiche Kommentare zum Hohenlied und auch der Trinitätstraktat Richards von Sankt Viktor, der die Dreifaltigkeit als Vollendung der Liebe darstellt, ist hier zu nennen.

Charitas profectus animi, qui Deum et in Deo omnia diligit. Liebe ist der Fortschritt der Seele, die Gott und in Gott alles liebt. Dieser Satz ist für mich gleichsam der Schlüsselsatz der Sieben Bücher der Dialoge und was Hugo damit meint, möchte ich Ihnen in diesem Vortrag kurz skizzieren.

II. Deus Charitas est – Der gute Gott und seine gute Schöpfung

1. Liebe als Wesenseigenschaft Gottes

Wenn man recht bedenken will, was Liebe ist, so muß man von Gott seinen Ausgangspunkt nehmen, der in seinem Wesen Liebe ist und der Ursprung und das Ziel aller Liebe. Aber was bedeutet es, daß Gott in seinem Wesen Liebe ist? Hugo schreibt: „Gott ist in höchstem Maße wahr und wahrhaft der Höchste, er ist das einfache Gut, vollkommen, unveränderlich und einzig.“ (I, 1, 1141)
Die Einfachheit des Wesens bedeutet (nach Augustinus, De Civitate Dei XI, 10), daß „es ihm eigentümlich ist, nichts zu besitzen, was es auch verlieren könnte, oder daß zwischen Besitzer und Besitz kein Unterschied besteht.“ Es gibt also in Gott nicht die Substanz und daneben verschiedene Eigenschaften, die dieser Substanz zugeschrieben werden können, sondern alle Aussagen über Gott beziehen sich nur auf die Substanz. Alles, was Gott ist, ist er unveränderlich und vollkommen seinem Wesen nach.

„Gott ist die Liebe.“ (1Joh 4,16) Dieser Satz aus dem Ersten Johannesbrief ist eine substantielle Aussage über Gott. Hugo schreibt dazu:

„Die höchste Liebe, die Gott ist, ist, wo immer sie auch ist, keine geringere oder größere Liebe. Denn keine Substanz oder Wesenheit ist irgendwo eine größere oder geringere Substanz oder Wesenheit. Johannes sagt: Gott ist die Liebe (1 Joh 4,16). Weil Gott dies wesensmäßig ist, kann er nicht irgend etwas nicht lieben.“ (II, 1, 1153)

Die Liebe Gottes zeigt sich in seinem Handeln aus Liebe, in ganz besonderer Weise in der Schöpfung, die Gott, wie es im Schöpfungsbericht im Buch Genesis heißt, sehr gut gemacht hat. Da Gott „einzig und zuhöchst der Gute ist, ist alles, was von ihm geschaffen ist, auch selbst gut. Gut sage ich, aber nicht das höchste Gut, weil es geschaffen ist. [...] Gut ist jener, gut sind alle seine Werke.“ (III, 1, 1165)

2. Die Freiheit und die Möglichkeit des Bösen

Dennoch läßt sich die Tatsache nicht leugnen, daß man gleichsam auf Schritt und Tritt in der Welt dem Bösen begegnet. Woher kommt das Böse? Für Hugo ist das Böse nicht irgendeine Beschwerlichkeit oder Krankheit, sondern das Böse im eigentlichen Sinn ist das Handeln gegen den Willen Gottes, die Sünde.

Der Tradition gemäß hat für Hugo das Böse kein Sein an sich, sondern er definiert das Böse ist die Wegnahme eines Guten.

Die Möglichkeit des Bösen, das in der freien Entscheidung gegen Gott besteht, ist daher gegeben, weil Gott der vernunftbegabten Schöpfung Freiheit geschenkt hat. Der Mensch hat einen freien Willen, weil es ohne Freiheit keine Liebe geben kann.

Bei der Erklärung dessen, was die Freiheit des Willens bedeutet, wird es vielen ergehen, wie dem Dialogpartner Hugos, der sagt: „Die Rede vom freien Willen ist fast in aller Munde. Aber ich gebe zu, daß ich nicht weiß, was es damit auf sich hat.“
Darauf antwortet Hugo:

„Der freie Wille ist, wie ich meine, eine gewisse Bewegung des vernünftigen Verstandes und hat die Möglichkeit, das, was er beschließt, auszuführen. Diese freie Entschlußfähigkeit des vernünftigen Willens hat der Mensch empfangen, damit er sich vor allem anderen seinem Schöpfer zuwendet.“ (III, 5, 1168f.)

3. Deus hominem ad imaginem et similitudinem suam fecit – Der Mensch, Gottes Bild

Freier Wille und Verstand sind also eine besondere Auszeichnung der vernunftbegabten Schöpfung, zu der der Mensch gehört. Der Mensch besteht aus Leib und Seele. Mit seinem Leib ist der Mensch dem Irdischen verbunden. Die Seele jedoch verbindet den Menschen mit Gott.

So zeigt sich, wie es schon im Schöpfungsbericht heißt, daß der Mensch Bild Gottes ist. Er ist dies hier auf Erden jedoch auf undeutliche Weise und der Mensch kann das Bild Gottes verdunkeln. So bedarf es der Liebe, um die Gottebenbildlichkeit des Menschen sichtbar werden zu lassen.

„Die Liebe ist die Tugend, durch die die vernunftbegabte Schöpfung, wenn sie an ihr festhält, ihrem Schöpfer ähnlich wird; wenn sie ihr aber fehlt, bleibt sie ihm unähnlich. Jeder also, der in allem, was er bedenkt oder tut oder spricht, von der Liebe bewegt wird, erweist sich seinem Schöpfer ähnlich, der gleichsam allein aus Liebe alles wirkt.“ (II, 5, 1157)

Das Ausgerichtetsein des Menschen auf Gott zeigt sich auch in seinem Streben nach Glückseligkeit, das letztlich nur in Gott seine wahre Erfüllung finden kann.

„Gott [...] hat aus dem Wohlwollens seiner Liebe heraus den Menschen lebendig geschaffen. Ohne das Wohlwollen des Schöpfers fehlt ihm jedoch die Ewigkeit und die Glückseligkeit. Deshalb hat jener, der wesenhaft Leben und Ewigkeit und Glückseligkeit ist, wegen seiner unaussprechlichen Liebe dem Menschen den freien Willen geschenkt, durch den er aus Gnade das erlangen kann, was er nicht von Natur aus empfangen hat, nämlich die Ewigkeit und die Glückseligkeit.“ (III, 3, 1167)

Der Mensch ist also dazu berufen, über das hinauszugehen, was er allein von seiner Natur her ist. Die Vollendung des Menschen erfüllt sich in der Ewigkeit, wenn er Gott schauen darf, wie er ist. „O glückselig jene Seele, die mit der nötigen Liebe das Ewige sucht und die die Ähnlichkeit mit der höchsten Dreifaltigkeit in der Herrlichkeit besitzt! Dies bekräftigt der Apostel Johannes ... wenn er sagt: Wir werden ihm ähnlich sein, weil wir ihn sehen werden, wie er ist (1 Joh 3,2). [...] Die Ähnlichkeit mit Gott wird in uns gebildet durch das Maß der Liebe und durch die Ähnlichkeit in der Tugend.“ (VII, 3, 1237)

III. Charitas profectus animi – Liebe, Fortschritt der Seele – Ein Spezifikum Hugos von Rouen?

Der Mensch kann also mit seiner Freiheit als eigenes Verdienst das überweltliche Gut der Glückseligkeit erlangen, das aber zugleich ganz Geschenk Gottes ist. Das Streben des Menschen nach dem überweltlichen Gut der wahren Glückseligkeit, das allein in der Liebe geschehen kann, beschreibt Hugo als Fortschritt der Seele:

„Liebe ist der Fortschritt der Seele, die Gott und in Gott alles liebt. Dagegen ist die Begierde, die weder Gott noch in Gott irgendetwas liebt, der Rückschritt der Liebe. ... Die Liebe ist gleichsam die Mutter alles Guten, wie die Begierde die Wurzel aller Übel ist. Deshalb tragen die göttlichen Vorschriften auf, daß allein die Liebe bewahrt werden soll, und zeigen, daß allein die Begierde vollends gemieden werden soll. - Charitas est profectus animi qui Deum et in Deo omnia diligit. Econtra cupiditas est defectus charitatis, qui nec Deum nec in Deo aliqua diligit. [...] Charitas ergo sicut parens est omnium bonorum, ita cupiditas radix est omnium malorum. Quapropter divinis auctoribus sola charitas servanda mandatur, sola vero cupiditas fugienda monstratur.“ (IV, 4, 1180f.)

1. Freiheit und Gnade und Verdienst

Gegen Ende dieses Vortages möchte ich kurz diesen Gedanken Hugos in die Theologie seiner Zeit einordnen. Damit betreten wir das weite Feld der Gnadentheologie. Das Ineinander von Gnade und Freiheit ist ein Problem, das zur Zeit Hugos noch nicht gelöst war. „Man stand eben zwischen Szylla und Charybdis. Auf der einen Seite wurde das Verdienst als Gnade bezeichnet, auf der anderen Seite forderte man dafür die freie Betätigung des Menschen.“ (Landgraf I/1, S. 183)

Eher neigte man jedoch dazu, das menschliche Vermögen und die Bedeutung des menschlichen Verdienstes abzuwerten. Ein Beispiel dafür ist die Auslegung der Stelle Röm 9,16 „So kommt es nicht auf das Wollen oder Vollbringen des Menschen an, sondern allein auf das Erbarmen Gottes.“ durch Augustinus. Dieser erkennt darin den Gegensatz, der zwischen der Bedeutung des Wollens des Menschen und dem Erbarmen Gottes besteht. Letztendlich ist es allein Gott, der den Willen des Menschen für das Tun des Guten zubereitet und es ist nicht so, daß freier Wille und Gnade auf gleicher Ebene zusammenwirken.
„So bleibt also als rechtes Verständnis der angeführten Stelle [...] nur die Auffassung übrig, die Gott alles gibt. Er ist es, der den guten Willen des Menschen zubereitet, um ihm zu helfen, und er hilft ihm, nachdem er ihn zubereitet hat.“ (Enchiridion, 32)

Näher an Hugo von Rouen ist hier Hugo von St. Viktor. Für ihn gibt es zwei Güter des Menschen, ein körperliches, das der Mensch schon umsonst empfangen hat, und ein geistiges, das der Mensch durch Verdienst anstreben soll. Die Notwendigkeit des Verdienstes zeigt die Größe dieses geistigen Gutes an.
„Nicht deshalb verlangt Gott den Dienst des Menschen, weil der allmächtige Schöpfer des Dienstes des von ihm geschaffenen Menschen bedürfte, sondern damit der Mensch selbst die wahren Güter um so herrlicher besitze, indem er sie durch Verdienst erlangt. Deshalb war es für die höchste Güte mehr, sowohl den Verdienst als auch das Geschenk zu geben, als ohne Verdienst nur das Geschenk.“ (De sacramentis, I, VI, VI, PL 176, 267)

Allgemein zeigt es sich, daß „die Spekulation über das Übernatürliche des Verdienstes innigst mit der Caritasfrage verknüpft“ ist. Landgraf schreibt dazu in seinem Standardwerk Dogmengeschichte der Frühscholastik: Die „caritas wurde als Weg zum ewigen Ziel bezeichnet und die Spekulation macht sich diesen Vergleich begierig zunutze und spricht von einem moveri und proficisci, von Schritten der Liebe, die zum Schöpfer eilen.“ (Landgraf I/1, S. 191) Dafür kann Landgraf aber als Beispiel nur das einschlägige Zitat Hugos von Rouen anführen. Dies bekräftigt meine Ansicht, daß Hugos Definition der Liebe als Fortschritt der Seele eine einmalige Formulierung darstellt. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich noch einige Stellen anderer Autoren untersuchen, bei denen der Gedanke des Fortschritts ausgedrückt wird.

2. Profectus et Defectus

Das Begriffspaar profectus – defectus ist weit verbreitet, als Beispiel möchte ich nur kurz Bernhard von Clairvaux anführen:
„Gutes zu wollen ist ein Fortschritt, Böses zu wollen aber ein Mangel. – Velle etenim bonum profectus est; velle malum defectus.“ (De gratia et libero arbitrio)

Bei Augustinus finden wie eine Stelle, die große Ähnlichkeit mit Hugos Definition der Liebe als Fortschritt der Seele erkennen läßt. Im dritten Buch von Augustins De Doctrina Christiana heißt es:

„Ich nenne die Liebe einen Antrieb des Geistes, Gott um seiner selbst willen und sich und den Nächsten um Gottes willen zu genießen. Die Begierde aber nenne ich einen Antrieb des Geistes, sich selbst, den Nächsten und einen beliebigen Körper nicht um Gottes willen zu genießen. [...] Je mehr aber die Herrschaft der Begierde zerstört wird, um so mehr wird die Liebe vermehrt. – Caritatem uoco motum animi ad fruendum deo propter ipsum et se atque proximo propter deum; cupiditatem autem motum animi ad fruendum se et proximo et quolibet corpore non propter deum. [...] Quanto enim magis regnum cupiditatis destruitur, tanto caritas augetur.“ (Doctrina Christiana 3, 16, CCL 32, 87)

Bei Augustinus begegnet uns hier anstelle des von Hugo verwendeten lieben (diligere) das für ihn typische genießen (frui). Dieses Wort ist jedoch eng mit der Liebestheorie des Augustinus verbunden. „Mit frui bezeichnet Augustinus den Genuß, den der Liebende bei der Vereinigung mit dem Geliebten empfindet; diese Vereinigung ist in ihrer reinsten Form als Teilhabe an Gott die ewige Seligkeit des Menschen.“ (Perkams, S. 51) Somit besteht eine enge Verwandtschaft zwischen diligere und frui.

Augustinus bezeichnet die Liebe jedoch nicht als Fortschritt (profectus), sondern einfach als Antrieb (motus). Darin liegt ein entscheidender Unterschied zwischen Augustinus und Hugo. Ich meine, daß mit dem Wort Fortschritt bei Hugo auch die Möglichkeit des Verdienstes mit eingeschlossen ist, während das bei Augustinus verwendete Wort Antrieb lediglich für die Ursache dessen steht, daß etwas geschieht.

C. Schluß

Wir haben in diesen Vergleichen gesehen, daß Hugo in seinem Denken von der Liebe als Fortschritt der Seele durchaus auf vorhandenes Gedankengut zurückgreift. Wenngleich eine Ähnlichkeit mit einem Augustinuszitat besteht, so finden sich doch auch grundlegende Unterschiede. Das streng augustinische Modell ließe sich mit dem Wort Abhängigkeit bezeichnen. Wenn alles Gute von Gott kommt, was kann da der Mensch aus sich an Gutem haben? Hugo leugnet nicht, daß alles Gute von Gott kommt. Der Mensch hat aber auch von Gott Vernunft und freien Willen bekommen, die so konzipiert sind, daß der Mensch mit ihrer Hilfe den Willen Gottes tun kann und damit Verdienste erwerben kann. Der Mensch hat eine Verantwortung für sein Leben, die er auch aus eigener Kraft – freilich aber auch mit Hilfe der Gnade Gottes – umsetzen muß. Es war Hugo sicher bewußt, welchen Akzent er mit seiner Betonung von Verantwortung und Verdienst und der Aufforderung zu einem Voranschreiten in der Liebe in der Theologie seiner Zeit gesetzt hat.

Ich finde, daß Hugo von Rouen auch heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Als großen Verkünder der Botschaft von Liebe und Verantwortung erlebe ich den derzeitigen Papst Benedikt XVI. Programmatisch hat er seiner ersten Enzyklika den Titel „Deus caritas est“ gegeben. Dort schreibt er:

„Die Erkenntnis des lebendigen Gottes ist Weg zur Liebe, und das Ja unseres Willens zu seinem Willen einigt Verstand, Wille und Gefühl zum ganzheitlichen Akt der Liebe. Dies ist freilich ein Vorgang, der fortwährend unterwegs bleibt: Liebe ist niemals ‚fertig’ und vollendet; sie wandelt sich im Lauf des Lebens, reift und bleibt sich gerade dadurch treu.“ (Deus caritas est, S. 40f.)

Auf dem Weg der Liebe kann der Mensch mit Gottes Hilfe das Ziel erreichen, das der liebende Gott ihm im voraus vorherbestimmt hat, die Teilhabe an der ewigen Glückseligkeit Gottes, wenn der Mensch Gott sehen wird, wie er ist. Das ist das Ziel eines jeden Menschen und darum bittet Hugo am Schluß seines Werkes:

„Du, gütiger Herr, entreiße uns durch die Kraft deiner Liebe und durch das Maß des Gehorsams dem Geschick der Bösen, schreibe uns ein in die Zahl der Gerechten. O mein Gott, weil Du Mensch wurdest, bist Du wahrhaft mein, für mich wurdest Du ein armer und bedürftiger Bewohner auf meiner Erde, mögest Du mich wahrhaft Armen und Bedürftigen zu einem Besitzer Deiner ewigen Freude machen in der Ewigkeit! [...] Amen.“